April 2000

Modern Jazz

Joachim Kühn: The Diminished Augmented System
(Emarcy/Universal)

Die formale Strenge von Bach, das Freiheitsdenken von Coleman: Zwischen den Polen Klassik und Freejazz ist der Leipziger Pianist Joachim Kühn aufgewachsen. Im reifen Alter sind diese Pole in seinem virtuosen und vitalem Spiel noch immer bestimmend. Mit dem Thomaner-Chor hat Kühn jüngst zum Bach-Geburtstag musiziert und mit Coleman seit vier Jahren in unterschiedlichen Konstellationen, vornehmlich im Duo gearbeitet. Seine neue Solo-Piano-CD ist so gesehen keine Überraschung – auch wenn Kühn hier neben zehn Eigenkompositionen vier Coleman-Kompositionen sowie drei Sätze einer Violin-Partitur Bachs spielt. Was eigentlich nicht zusammengeht, weil es unterschiedlicher nicht sein könnte, verwächst bei Kühn zu einer musiklischen Einheit – der Übergang von Coleman zu Bach im letzten Drittel der CD fällt kaum auf.

Mark Turner: Ballad Session
(eastwest)

Junger aufstrebender und zudem auch noch gut aussehender Saxofonist nimmt eine Platte mit Realbook-erprobten Balladenmaterial auf: Das kommt einem doch irgendwie bekannt vor. Ein Promotiontrick der Plattenfirma, um auch Brigitte-Leserinnen für den modernen Jazz zu gewinnen? Von wegen: Turners zweiter Tonträger klingt zwar ausgesprochen ausgeschlaffen und relaxt, doch Tongebung und Reduktion auf die wesentlichen Akzente zeugen von einem reifen Tenoristen mit eigenem Profil. Zum Gelingen dieser CD trägt natürlich auch das traumhafte Zusammenspiel des Gespanns Kevin Hays (Piano), Larry Grenadier (Bass) und Brian Blade (Drums) bei.

Lonnie Plaxuixco: Emergence
(Savant)

Von jedem Musiker, der mal bei M-Base-Ikone Steve Coleman gespielt hat, ist eines nicht zu erwarten: musikalischer Stillstand. Country & Folk, Funk oder experimentell-vertrackter Jazz: Wie sein Ex-Arbeitgeber kennt Bassist Lonnie Plaxico keine Scheuklappen. Seine neue CD hat der Bandleader von Cassandra Wilson von seiner Chefin produzieren lassen – ohne das dies allerdings Spuren hinterlassen hätte. Anstelle der Wilson’schen Klangästethik tritt das expressive Element. Explosive Bläserchorusse, dynamische Akkordwechsel und funkigen Backings prägen die 16 Stücke, aufgelockert durch relaxte Interludes. Eine Platte, die nicht nur durch ihren Ideenreichtum aus dem Gros der sterilen Neo-Bop-Produktionen heraussticht.

Jimmy Greene: Brand New World
(RCA/BMG)

Vorsicht, so brand new ist die Musik dieses Sax-Newcomers nicht. Mit „Brand New World“ beackert Greene das hinlänglich bekannte Feld des Hard-Bop in der Tradition eines Hank Mobley oder Jackie McLean, ohne großartige Nuancen hinzuzufügen. Am aufsehenerregensten sind am ehesten die Stücke, wo das Fender Rhodes-Piano elektrisierende Klangfarben herbeizaubert. Doch auch das ist nicht wirklich neu. Abgesehen aber davon, dass hier nur wenig Innovatives geboten wird, präsentiert sich der Saxofonist Jimmy Greene als ausbaufähiger Stilist mit durchaus eigener Note.

Groove-Jazz

The Sons And Daughters Of Lite: Let The Sunshine In
(Luv’n’Haight/Groove Attack)

Das San Franciscoer Reissue-Label Luv’n’Haight (ein alter Sly-Stone-Titel) hat bereits einige verschollen geglaubte Groove-Nuggets zu Tage gefördert. Und damit Sammler glücklich gemacht, die sich für den Erwerb des Vinyloriginals wahrscheinlich überschuldet hätten. Die Platte der Sons And Daughters Of Lite ist besonders rar, da sie nur in kleinen Community-Zirkeln vertrieben wurde. Die darauf enthaltene Musik macht dem Albumtitel alle Ehre, und bringt Sonne in die Herzen. Zwischen Funk und afrikanischen Percussion-Vibes, zwischen modalen Jazz-Exkursionen und Soul-Euphorie bedienen TSADOL jene Menschen, in deren Plattensammlung ein besonders hoher Anteil an Black Jazz-, Pharaoh Sanders-, Normann Connors- und Gil Scott Heron-Platten steht.

Low Rock

Morphine: The Night
(Rycodisc/Zomba)

Die Musik von Morphine zu beschreiben haben schon viele versucht. Ein sinnloses Unterfangen, ganz im Sinne von Miles Davis berühmten Ausspruch „The music speaks for itself“. Diese CD liefert den letzten Anlass, Morphines merkwürdiges Konglomerat (welch Unwort!) aus Rock, Jazz und exotischen Sounds zu enträtseln. Denn kurz nach Fertigstellung der CD erlag Bandleader und Bassist Mark Sandmann bei einem Konzert einem Herzinfarkt und hinterlässt mit „The Night“ ein letztes, faszinierendes Werk. Sehr songorientiert und geprägt von Sandmanns zweisaitigem Slidebass-Sound und grunzenden Tönen aus dem Baritonsaxofon durchstreifen die Musiker das weite Land subsonischer Möglichkeiten. Garantiert nichts für Freunde üppiger Jazz-Daddeleien, aber etwas für Menschen mit Hang zum Unkonventionellen.

Rezensionen von Tiga Schwope