„Ich spiele nicht für mich alleine“

Tom Harrell im Gespräch mit Jazz over Hannover-Autor Bernd „Tiga“ Schwope

Ein Zahlendreher. Das also war der Grund, warum kein Freizeichen ertönt. Aber zum Glück gibt es ja noch E-Mail-Postfächer. Nach einigem Suchen findet sich eine Korrespondenz-Mail mit der richtigen Nummer. Es ist eine Nummer mit der New Yorker Vorwahl 212. Es ist die Telefonnummer von Tom Harrell. Der blöde Zahlendreher ist schuld – der Anruf kommt mit viertelstündiger Verspätung. Harrell nimmt selber ab. Aber ist es überhaupt Tom Harrell? Die Stimme ist sehr leise, kaum zu verstehen. Immer wieder gibt es lange Pausen. Aber den Interviewer scheint Harrell gut zu hören. Seine Antworten kommen zwar mit Verzögerung, aber sie sind wohl überlegt.

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Dennoch: sein bevorzugtes Medium scheint die Sprache nicht zu sein. Harrell drückt sich lieber in Tönen aus. Aber dies mit einer klaren Ansprache und Klarheit, die fast unwirklich erscheint. Denn Harrell leidet an Schizophrenie. Eine Krankheit, die sich nur mit schwersten Psychopharmaka und Nebenwirkungen auf das Nervensystem eindämmen lässt. Aber die Harrell, wie jeder bezeugen kann, der den 62-jährigen Trompeter einmal live erlebt hat, mit großer Bravour meistert. Wenn Harrell nicht in die Trompete bläst, dann steht er scheinbar teilnahmslos mit leerem Blick auf der Bühne und senkt den Blick. Nähert er sich aber wieder dem Mikrofon, wird der Hebel schlagartig umgelegt – ein Schwarm hauchzart intonierter Töne verlässt den Trichter, die sich zu mit beeindruckender Logik geformten Motivketten reihen.

Doch bereits Kleinigkeiten, die nicht in den geregelten Ablauf eines Konzertes passen, vermögen Harrell durcheinander zu bringen. Seine Mitmusiker erzählen, dass er Soli schnell beendet, wenn jemand aus der Band oder dem Publikum spricht. Harrell denkt dann, ihn wolle niemand hören. Und folgerichtig bricht er sein Solo ab. Ähnliches passiert im Interview. Auf eloquente Ausführungen zu seiner neuen CD „Prana Dance“ folgen Momente der Stille, der Irritation. Auf die Frage, was ihm an seiner Band gefällt, antwortet Harrell unverbindlich: „Ihre Kreativität und ihr Feeling“. Die CD „repräsentiert sehr gut den Sound meiner Working Band“, sagt Harrell.

Aber ebenso wie Harrells Trompetensoli sich behutsam entwickeln, so entwickelt sich auch das Interview. „Was ich hoffentlich mit meinen neuen Songs erreicht habe, ist einen Rahmen zu schaffen, der eine gewisse Stimmung vorgibt, aber den Musikern die Freiheit lässt, sich auszudrücken“, sagt Harrell nun auskunftsfreudiger. Die Musiker sind dabei die selben, die schon auf Harrells viel gepriesenen Vorgängeralbum „Light On“ spielten: Das facettenreich und punktgenau agierende Rhythmusgespann um Ugonna Okegwo am akustischen Bass und Jonathan Blake am Schlagzeug, Danny Grissett am akustischen Piano und dem Fender Rhodes sowie der brillante Sopran- und Tenorsaxofonisten Wayne Escovery.

„Ich spiele nicht für mich alleine, sondern für die Leute. Ich schätze die Live-Atmosphäre. Selbst im Studio stelle ich mir vor, ich würde vor einem richtigen Publikum spielen“, verrät Harrell. Dass Harrell den Hörer nicht ausblendet, ist den acht Eigenkompositionen auf „Prana Dance“ deutlich anzuhören. Ihnen allen gemeinsam ist eine fast tranceartige Qualität, eine Reduktion auf simple melodische Motive, die sich im Improvisationsprozess organisch entwickeln. Songs wie „Ride“ oder „Prana Dance“ basieren auf zwei oder drei Noten und skelettierte harmonische Strukturen.

Eine Vorgehensweise, die an einen anderen Trompeter erinnert. Harrell bestätigt: „Miles Davis war ein großer Einfluss. Er war der Wegbereiter für diese Art von Musik“. Welches Album Harrell zuletzt gehört hat? „Miles In the Sky“ von 1968. Dies erklärt auch den vermehrten Einsatz des Fender-Rhodes-Pianos auf „Prana Dance“. „Das Fender Rhodes hat diese unterschiedlichen, wunderschönen Klangfarben“, sagt Harrell und verweist in diesem Zusammenhang „auf den historischen Hintergrund“ der Sechziger und Siebziger, als der Jazz sich Rock, Funk und Latin öffnete.

„Es war eine spannende Zeit. Ich lebte damals in San Francisco und die Bay Area war ein Schmelztiegel, in dem verschiedene Musikstile zusammenfanden. Diese Offenheit gefällt mir. Ich sehe meine Musik als Weiterentwicklung dieser Periode“, erklärt Harrell. Neben Jobs bei Phil Woods, Woody Hermann, Horace Silver, Bill Evans, Gerry Mulligan und vielen andern Jazzgrößen, spielte Harrell auch in Latin- und Funk-Bands wie Santana, Azteca und Cold Blood. Sogar der Blechblas-Disco-Hitmaschine Players Association lieh Harrell seine Chops. Eine peinliche Erfahrung? „Nein, es hat mich musikalisch weitergebracht. Ich bin offen für alle Arten von Musik: Brasilianische Musik, Soul oder gar HipHop. Alle Musik hat ihren Wert, so lange sich dich inspiriert.“

Hätte Harrell eine Wunsch frei, würde er „ein Album mit einem großen Orchester mit außergewöhnlicher Instrumentation“ einspielen, „so etwas in der Art wie Gil Evans, aber es müsste etwas sein, was es noch nie gegeben hat.“ Doch auch ohne die Erfüllung dieses Traums ist Harrell glücklich: „Ich habe eine fantastische Band. Sie hat ein enormes Potential und spielt auf einem sehr hohen Level. Sie ist für mich in meiner Lebenssituation enorm aufbauend und inspirierend.“

Tom Harrell spricht nun nicht mehr so leise wie am Anfang. Er erzählt von seinem ersten Trompetenlehrer, der ihn klassisch ausbildete; vom Internet, dass jungen Musikern viele Möglichkeiten gibt, sich zu informieren und über seine Sechs-Tage-Woche mit seinem Quintett im New Yorker Village Vanguard. Unglücklich wirkt er dabei nicht. Aber bescheiden. Dabei hat Harrell unbestritten seinen Platz im Olymp der blauen Noten gefunden – als einer der großen Lyriker des Jazz.

CD: Tom Harrell „Prana Dance“ (High Note/ZYX)